Der 9. November 2018
Wir, das Geschichtsprofil des 10. Jahrgangs, hatten heute die Chance, an einer Gedenkveranstaltung zum 9. November im Kieler Landtag teilzunehmen. Nach den Vorträgen im Plenarsaal hatten wir das Glück, eine kleine Führung durch den Landtag, begleitet von Tobias Koch, zu genießen.
Anschließend haben wir beim „Gang des Erinnerns“ mit einem Redebeitrag zum und am jüdischen Friedhof in Ahrensburg teilgenommen. Ein äußerst aufregender und interessanter Tag im Sinne der Erinnerungskultur.
Hier könnt ihr euch unsere Rede durchlesen, die wir beim „Gang des Erinnerns“ gehalten haben.
„Gang des Erinnerns“ am 9. November 2018 zum Gedenken an die Reichspogromnacht vor 80 Jahren am 9./10. November 1938 (Geschichte des jüdischen Friedhofs)
Wir haben uns hier am jüdischen Friedhof am Wulfsdorfer Weg, der ersten Station des diesjährigen „Gangs des Erinnerns“, versammelt, um gemeinsam der Ereignisse vor genau 80 Jahren zu gedenken, die sich in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 überall in Deutschland und auch hier in Ahrensburg zutrugen.
Wir, das Geschichtsprofil der Stormarnschule, haben uns dazu in den letzten Wochen intensiv mit dem Thema „Gedenken“ und „Erinnerungskultur“ und insbesondere mit den damaligen Geschehnissen am heutigen Tag, der sog. „Reichspogromnacht“, auseinandergesetzt und wollen Ihnen am Beispiel der Geschichte des jüdischen Friedhofs, vor dem wir hier stehen, erzählen, warum es wichtig ist, die Erinnerung an die Vergangenheit wachzuhalten und einen Gedenkort wie diesen nicht in Vergessenheit geraten zu lassen.
„Erinnerung“ – Was ist das überhaupt?
Für uns heißt Erinnerung:
– Etwas im Gedächtnis bewahren und sich dessen wieder bewusst werden;
– Die Erinnerung an jemanden oder etwas wieder ins Bewusstsein rufen;
– Jemanden veranlassen, an etwas zu denken, beziehungsweise jemanden oder etwas nicht zu vergessen.
Diese Formen von Erinnerung sind von großer Bedeutung, weil vielen von uns Schülern, als wir mit den historischen Recherchen begannen, nicht bewusst war, dass ein jüdischer Friedhof hier in Ahrensburg überhaupt existiert. Erinnerung ist für uns daher immer eine Erinnerungsarbeit: Sie ist nicht einfach da, sondern man muss sich Erinnerung persönlich aneignen und vergegenwärtigen; man muss sich Erinnerung also bewusst machen oder – um den Sinn der heutigen Veranstaltung bildlich aufzunehmen – man muss Erinnerung aktiv „begehen“.
Das Stadtarchiv Ahrensburg ist für diesen zunächst forschenden „Gang des Erinnerns“ eine aufschlussreiche Quelle. In den Unterlagen erfährt man, dass der erste jüdische Bewohner 1788 nach Ahrensburg kam. Bis 1811 hatten sich schon vier Familien jüdischen Glaubens hier zusammengefunden. Trotz Einwanderungsbeschränkungen wuchs die jüdische Gemeinde in den folgenden Jahren weiter an, bis im Jahre 1821 dann 57 jüdische Bürger in Ahrensburg lebten. Sie waren als Kleinhändler Teil des dörflichen Lebens. Im Jahre 1822 wurde schließlich eine Synagoge, die eigentlich nicht mehr als eine kleine Betstube war, in der Nähe der Ahrensburger Schlosskirche eingerichtet sowie der jüdische Friedhof, weit außerhalb des damaligen Dorfes Woldenhorn, am heutigen Wulfsdorfer Weg.
Seit 1930 ist der jüdische Friedhof von einer Mauer umgeben, die ihn ursprünglich vor antisemitischen Übergriffen und Schändungen schützen sollte. In den Unterlagen der 2003 neu gegründeten jüdischen Gemeinde Ahrensburg wird die Zahl der Gräber auf 23 beziffert, was allerdings, ohne die Totenruhe zu stören, nicht mehr genau überprüft werden kann. Fest steht, dass der Friedhof 1880/81 die noch fehlende Trauerhalle, links vom Eingangstor liegend, errichtet bekam und die letzte Beisetzung hier im Jahre 1923 stattfand. An dieses Jahr erinnert auch der an der Außenseite der Mauer befindliche Steinhaufen, der eine fast unscheinbare kleine Gedenkstätte darstellt und die Inschrift trägt: „MENSCH – HALTE INNE“ – und auch wir wollen mit der Erinnerung an die Zerschlagung der Ahrensburger jüdischen Gemeinde in der Zeit des Nationalsozialismus kurz innehalten.
Der Antisemitismus auch gegen die kleine jüdische Gemeinde hier in Ahrensburg war seit ihrer Gründung stets allgegenwärtig und spürbar, erfuhr aber in der Zeit der Weimarer Republik und dann nach der „Machtergreifung“ der Nationalsozialisten 1933 eine bedrohliche Verschärfung. Ein tragisches Beispiel dafür ist das Schicksal der Familie Rath, der die Stormarnschule im Jahre 2016 durch die Verlegung von vier Stolpersteinen in der Waldstraße 8 in besonderer Weise gedachte: Dr. Hugo Rath, ein angesehener Ahrensburger Arzt, wurde 1935 wegen angeblich regimekritischer Äußerungen denunziert, woraufhin seine jüdische Frau Veronika Rath unter dem wachsenden politischen und persönlichen Druck schließlich 1938 den Freitod wählte, um ihre Familie zu schützen. Zwei Jahre später, 1940, verstarb auch Hugo Rath, der den Verlust seiner Frau nicht verkraftete und aus Verzweiflung zu trinken begann. Auch wenn der „Gang des Erinnerns“ dieses Jahr nicht an der Waldstraße vorbeiführt, wollen wir dennoch die Erinnerung an die Familie Rath an diesem 9. November mit einer Stellwand im Rathaus würdigen und wachhalten.
Und damit führt uns der „Gang des Erinnerns“ in Gedanken und im Gedenken zu jenem schicksalshaften 9. und 10. November, an dem in ganz Deutschland 400 Synagogen in Brand gesetzt, rund 7.500 jüdische Geschäfte zerstört und geplündert wurden, 30.000 jüdische Männer in Konzentrationslager gebracht und unzählige von ihnen ermordet wurden. Auch an Ahrensburg ging die von den Nationalsozialisten inszenierte Hetzaktion gegen die in Deutschland lebenden Juden nicht spurlos vorbei. Von den Mitgliedern der Ahrensburger jüdischen Gemeinde wurden neben Otto Lehmann, der in Kiel verhaftet und Anfang Januar 1939 in das KZ Sachsenhausen gebracht wurde, auch Ottos Vater Harry und dessen Brüder Ludwig und Magnus Lehmann verhaftet und in Sachsenhausen inhaftiert. In der Folge emigrierte der Großteil der Ahrensburger Juden ins Ausland. Der 9. November markierte somit zeitweise das Ende des jüdischen Lebens in Ahrensburg. Und was geschah in jener Nacht hier am jüdischen Friedhof?
Die Auswertung der Quellen und Zeitzeugengespräche ist, was die Schändung des Friedhofs betrifft, nicht ganz sicher. Hinter uns soll in jener Nacht die Leichenhalle gebrannt und zerstört worden sein. Zeitzeugen, die den Brand beobachtet haben, konnten aber bislang nicht ausfindig gemacht werden. Günter Tennert, der damals Gärtnerjunge auf dem Friedhof war, konnte sich „nur“ an Verwüstungen wie umgekippte Grabsteine erinnern. Sehr bemerkenswert ist aber der erschreckend bürokratische Umgang, der die Diskussion um den Verkauf des jüdischen Friedhofs ab dem Frühjahr 1941 begleitete – zu einem Zeitpunkt also, als die jüdische Gemeinde in Ahrensburg faktisch ausgelöscht war und den Friedhof finanziell nicht länger unterhalten konnte. Wir waren erstaunt und zugleich erschrocken darüber, dass in der offiziellen Korrespondenz ausdrücklich von der notwendigen „Beseitigung des Judenfriedhofes“ gesprochen wurde, die geplante „Beseitigung“ aber immer wieder daran scheiterte, dass die Stadt Ahrensburg sich weigerte, den jüdischen Friedhof zu kaufen. Paradoxerweise – oder mit Blick auf heute eher glücklicherweise – wurde sogar geäußert, dass eine anderweitige Nutzung des Friedhofgeländes solange nicht in Betracht komme, bis die auf mindestens 30 Jahre angelegte Frist der Totenruhe abgelaufen sei. Man bedenke: Hier wurde ein bürokratischer Rechtsstreit um den jüdischen Friedhof geführt, der sich inmitten des Zweiten Weltkriegs und der Vernichtung der europäischen Juden fast beiläufig am Rande abspielte und trotzdem umso erinnerungswürdiger ist.
Friedhöfe sind nach jüdischem religiösem Verständnis für die Ewigkeit angelegt und es ist vielleicht ein kleines hoffnungsvolles Wunder, dass dieser jüdische Friedhof hier in Ahrensburg, vor dem wir heute stehen, die wechselvolle Geschichte seiner Errichtung bis in die Zeit des Nationalsozialismus und darüber hinaus überdauerte. Der jüdische Friedhof ist damit ein historisches Mahnmal und ein lebendiger Erinnerungsort, damit wir uns selbst der Vergangenheit bewusst werden und sie anderen Menschen und Generationen immer wieder ins Bewusstsein rufen und so im Gedächtnis bewahren. Wir dürfen die Vergangenheit und die Erinnerung an den 9. November nicht unterdrücken oder in Vergessenheit geraten lassen. Der „Gang des Erinnerns“ ist deshalb eine wertvolle und bereichernde Veranstaltung und ein klares Zeichen gegen das Vergessen.
(Wir danken Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit)