Die Schlachten der 70er Jahre an der Stormarnschule Ahrensburg

Die Schlachten der 70er Jahre an der Stormarnschule Ahrensburg

6. Februar 2020 5 Von REDAKTION

Cannabis, Hitlergruß und Schulstreik: Henrik Stoldt hat 1975 sein Abitur absolviert und erinnert sich an die „wilden“ 70er Jahre!


Wenn es eine harte Zeit gegeben hat im Dasein der Stormarnschule, dann war es der Beginn der 70er Jahre. Klar, im Krieg hatte man nichts zu heizen gehabt und musste Kartoffelsuppe essen, aber das war nichts gegen die Auseinandersetzung zwischen dem Tiemann/Kirsche-Regime und der nach Freiheit strebenden Schülerschaft. Gewaltbereite Minderheiten, rote Kader, Rauchen auf dem Mädchenklo, Knutschen hinter dem Geräteschuppen von Hausmeister Horst Kallweit, kurz gesagt: Es herrschte das nackte Chaos.

1975 Abi-Ball, Dirk Kirsche u. Frau, Fr. Ahrens, Helge Martens

Bewohner der Parkallee glaubten, die Volksdorfer Disco „Blu 2000“ hätte die Jugend verdorben, aber im Grunde waren die Studenten schuld. 1968 hatten sie dem Muff der Talare den Kampf angesagt. Das schwappte zwei Jahre später auf die Schulen über, besonders auf die Stormarnschule. Linke Gruppen schossen wie Pilze aus dem Boden und suchten nach rechten Revanchisten. Lehrer hatten doppelt Pech: Als Erwachsene vertraten sie das Establishment und als Beamte den Staat. Außerdem besiegten sie am 21.Juni 1974 das Fußballteam der Schüler mit 6:1. Und sah Direktor Tiemanns kahler Schädel nicht verdammt nach einem unprogressiven Rudi-Schuricke-Fan aus? Jedenfalls war er verantwortlich für die Schulordnung vom Mai 1961, in der unter „Schulzucht“ reaktionäre Sätze standen wie: „Alle Schüler müssen sich so verhalten, wie es das Ansehen der Schule erfordert. Dazu gehört neben der selbstverständlichen Grußpflicht gegenüber den Lehrern ein anständiges Verhalten in der Öffentlichkeit.“

Es waren wirklich harte Zeiten. Weil er bei den Schülern zu beliebt war, sollte Verbindungslehrer Plagemann (zwangs-)versetzt werden. Die Schüler drohten mit Streik und hatten Erfolg. Plagemann durfte bleiben.

1970 beherrschte „Al Mundy“ das TV, im Kino lief „Planet der Affen“, der Sommerhit kam von Mungo Jerry, Fransenstiefel kosteten DM 42,75 und alle vier Tore beim 4:2-Sieg der Unterstufenelf gegen die Großhansdorfer Gymnasiasten schoss ein gewisser Karsten Herrmann.

Die Sozialistische Basisgruppe Stormarnschule (SBS) strebte an die Macht. Vor Schulsprecher-Wahlen warb sie mit dem Slogan „Freiheit für Angola“ oder versuchte Sextaner-Stimmen mit der Aussicht auf Cola-Automaten zu ködern. Hörte sich beides ja ähnlich an! Neben Apartheid und der Befreiungsfront von Mozambique (Frelimo) wurde auch die Raucherecke an den Fahrradständern – weil im Winter kalt, nass und windig – zum wichtigen Thema.

Am 25. Juni löste sich die Schülervertretung (SMV) selbst auf, wegen „Machtlosigkeit der Schüler in einer den Schulbonzen unterstehenden Institution“. Von da ab verteilte ständig irgendjemand illegal Flugblätter. Schulsprecher Henning Obst ließ 500 Exemplare des „Kleinen Roten Schülerbuches“ anschaffen (eine Art Mao-Bibel für Anfänger) und trat dann zurück. Wurde man auf dem Schulhof verschwörerisch angeraunt: „Willste mal ’ne Ecke sehen?“ kam aus der Swan-Streichholzschachtel in Silberpapier verpackter roter Afghan, grüner Libanese oder simples Madhouse-Cannabis zum Vorschein. Im September fuhren alle, die in der Pubertät waren, für anderthalb Wochen ins Schullandheim Nehmten.

Mittwoch, 21. Oktober, gründete sich eine Schülergewerkschaft (SG) mit Christian von Ditfurth an der Spitze und gab für 30 Pfennige Monatsbeitrag Mitgliedsausweise aus. Programm-Kostprobe: „Es soll ein … Rechtsbeistand für Schüler eingerichtet werden. Er ist zuständig bei ungerechter Behandlung durch Lehrer (Beleidigung, Schlagen), als auch bei ungerechter Beurteilung von Leistungen (Arbeiten, Zeugnisse).“ Als eigenen, juristischen Beistand verdingte die Schülergewerkschaft Kurt Groenewold, später Verteidiger in den Prozessen der Rote-Armee-Fraktion (RAF). Am 11.11.70 schrieb der Anwalt an das Kollegium der Stormarnschule: „Die Schule hat kein Recht, Schüler, die eine ihr unerwünschte Meinung haben, von der Mitwirkung an Schulangelegenheiten … auszuschließen.“ Gemeint waren Christian v. Ditfurth, Stefan Weingardt, Uwe Bannert und Bernd Heinemann.

Schon vorher, Ende Oktober, war es zur Urabstimmung gekommen: Schülermitverantwortung oder Schülergewerkschaft?
Zum Erstaunen der SBS-Genossen behielten Verfechter der alten SMV die Nase vorn. Nur ein Drittel votierte für die „Gewerkschaft“. Das Kabinett Vollbrecht/Thorade übernahm die Regierung. Den Grund für die Pleite hatte die SBS schnell ausgemacht: „Die Sextaner stimmten mit ab, obwohl sie von den Vorgängen … keine Ahnung haben konnten.“

Die Lage wurde brenzlig. Eine Nachwuchs-Terroristin sabotierte das Schulaquarium mit Waschpulver und ohne Bekennerschreiben sprengte die nie zuvor in Erscheinung getretene Radikal-Revolutionäre Schülerbefreiungsfront (RSBF) einige Wochen nach Silvester 1971 dank sorgsam gehorteter Böller eine abendliche Zeugniskonferenz. Ganz abgesehen davon, dass aus der Schulbücherei das Werk „Der nackte Mann“ ausgeliehen wurde und nicht wieder auftauchte. Selbst ein alter Frontkämpfer wie Religionslehrer Pastor Burdach vertrat antiautoritäre Meinungen: „Ich bin dafür, dass es einen freiwilligen Religionsunterricht gibt, wie drüben in der DDR.“ Aber am Schlimmsten war, dass die ältere Generation von hinten nicht zu unterscheiden vermochte, ob vor ihnen ein Junge oder Mädchen ging. Wegen der langen, ungepflegten Haare, ist doch logo!

1975 Abi-Ball, Ehepaar Pastor Diekow

Mein Gott, was waren das noch für friedliche Zeiten gewesen, als die Bundeswehr 1967 in der Schulzeitung „Plus 63“ für ihre Einzelkämpferausbildung werben konnte und Schulsprecher Peter Tischer zwar keine „Verbrüderung“ mit den Lehrern, aber immerhin ein „Klima schaffen“ wollte, „in dem es sich angenehm arbeiten und aushalten lässt.“

1971 war das längst anders. An der Schule herrschte eine politisierte Atmosphäre und Deutschlehrerin Christa König verweigerte in ihrem 18. Jahr an der Stormarnschule selbst der Unterstufenzeitung ein Interview. Mit Recht, denn Pauker standen unter genauer Beobachtung. Deshalb blieb nicht verborgen, dass Bio-Lehrerin Jacobi am ersten Tag nach ihrer Fahrprüfung den Zaun gegenüber der Schule niederpflügte und Dr. Juhnke in seiner Klasse den Hitlergruß üben ließ, „damit die Schüler sich jene Zeit richtig vorstellen können“. Verbindungslehrer Hans-Jürgen Eck trat aus der CDU aus, erntete von der SBS aber nur verächtlich das Prädikat „Heuchelei“.

Praxistauglich war in jedem Fall, was Oberstufenpennäler Kai-Peter Ottmüller als offenbar routinierter Nachtschwärmer tat. Er bewertete in der Schülerzeitung elf Hamburger Diskotheken. Heraus kam: Aufmachung im Barett „spießig“, das Apollo „gut zum Tanzen“, im Big Apple (U-Bahn Dehnhaide) „nur Pop-Musik“, im Volksdorfer Blu 2000 „coole Typen“, im Grünspan (Große Freiheit) „gute Lichteffekte“, das Jazz House ein „korrekter Laden“, im Kleopatra „guter Diskjockey“, das Revolution mit 5 Mark Eintritt „am teuersten“, Leute im Top Ten (St. Pauli) „zwischen 17 und 25 Jahre alt“, das Sahara „langweilig“ und die Typen im Stahlnetz auf der Reeperbahn „lauter Kanaken“.

Weil eine neue SV-Satzung vom Kultusministerium abgelehnt wurde, trat das Kabinett Vollbrecht/Thorade am 16.09.1971 zurück. Auch Mathelehrer Dr. Kapust schien wenig Vertrauen in die Schulbehörde zu haben: „Man weiß ja nicht, welcher der Schulräte gerade tot oder krank ist. Die wissen das da oben ja selber nicht.“

1972 bekam die Schule einen neuen Chef, Dr. Kirsche, und die Schüler ein neues Einheitskabinett mit Ralf Kilger und Clemens Jäckel. Man diskutierte, ob ein Schulstreik die neue SV-Satzung durchsetzen könnte. Im Unterricht der Obersekunda hatte Lehrer Kowall längst resigniert: „Ich bin hier im Grunde genommen sowieso schon ausgeschaltet.“
Selbst außerhalb der Schule kam es zu Konflikten. „Solche Gäste, wie Sie, wollen wir hier nicht“, raunzte der Wirt des Birkenhofes einige Stormarnschüler am 9. März an. Bestraft wurde er mit einem Flugblatt, in dem 16 Gymnasiasten von Bert Behnke über Doris Sonnenberg bis Oskar Weidner der Kneipe den Boykott erklärten.

An dem besagten Bierabend war übrigens ein neues SV-Programm beschlossen worden. „Der Rauschmittelkonsum nimmt zunehmend gefährlichere Züge an“, stand darin. Deshalb wolle man sich um Kontakte zu Ärzten und Psychologen bemühen.
Die Schulsprecher hießen jetzt Jens Sass, Peter Kuntze und Heinrich Burth. Für Helgo Haak, Norbert Schaeper und Heiner Ulbricht war es indes „ein Rätsel, wie die Schulsprechergruppe es schaffen will, politische Gruppen von grundverschiedenen Auffassungen in einem Bündnis zusammenzufügen“.
„Diskussion kommt von Diskus, und der ist meistens platt“, wurde Gemeinschaftskundelehrer Dr. Dr. Friedrich Warner zitiert. Auch SBS-Lieblingsfeind Dr. Juhnke gab einen Beitrag: „Die russische Armee, das waren noch Kerle. Nicht solche haschischrauchenden Langhaarigen wie ihr, die anfangen zu weinen, wenn’s regnet.“

1974 Raucherhof

In den Haaren hatten sich die Stormarnschul-Jugendlichen auch mit Ahrensburg. „Die Stadt will uns verarschen. Da spielen wir nicht mit. Erscheint massenhaft zur Vollversammlung. Die Stadt soll sich wundern, was passiert!“ Es ging um ein Jugendzentrum und um die leicht nachvollziehbare Gefahr, dass entsprechende Aktionen in den Sommerferien 1972 einschlafen könnten.

Und die Stadt wunderte sich wirklich. Eines kühlen Februartages verbreiteten „Ton, Steine, Scherben“ Angst und Schrecken. Bekanntester Titel der Band um Rio Reiser: „Macht kaputt, was euch kaputt macht“. (Es gab übrigens einen Ex-Stormarnschüler, der in dieser Kapelle mal das Schlagwerk gerührt hat – Jürgen „Wauwi“ Hynding.) Auf Ahrensburgs Rathausplatz skandierten „Ton, Steine, Scherben“:
„Eins, zwei, drei, wir woll’n die Posthalterei
vier, fünf, sechs, Samusch, was sagst Du jetzt?
Sieben, acht, neun, Samusch, sagst Du nein,
zehn, elf, zwölf, dann hol’n wir sie uns selbst!“
Mit diesem Reim zogen die Scherben und ein Haufen Aufrechter zur Hausbesetzung die damalige B 75 hinunter. Die Stadtväter samt Bürgermeister Samusch wollten die Posthalterei, ein historisches Gemäuer jenseits des Schlossgrabens, abreißen, die Jugend beharrte auf ein autonomes Zentrum. Zwei abkommandierte Ordnungshüter wurden nicht müde, zu betonen, dass Frau und Kinder daheim auf unversehrte Väter warteten. Der Jugendprotest blieb am Ende vergebens, Monate später tilgten Bagger die Posthalterei von der Erdoberfläche.

An der Schule eskalierte ein anderer Streit. Zehn Schüler aus dem 2. Semester hatten ihre Semesterarbeiten in Kunst nicht abgegeben. Daraufhin wurden sie von der Schulleitung aus dem Kurs ausgeschlossen. Das amtierende Kabinett Schilling/Leinweber/Stern – eigentlich von konservativer Natur – schlug zurück. „Wir sehen uns gezwungen, rechtliche und politische Maßnahmen vorzubereiten“, verlautete man am 23.02.1973. Was darunter zu verstehen war präzisierte ein „Aktionsausschuss“: Schulstreik!
Hauptschulsprecher Thorsten Schilling wurde postwendend die Verweisung von der Schule angedroht. Ein Schlichtungsausschuss kam nicht zustande. Als Folge forderte der Aktionsausschuss „das gesamte Kabinett auf, wegen Arbeitsunfähigkeit zurückzutreten und den Weg für neue Wahlen freizugeben“.

In der Tat kamen neue Leute ans Ruder: Maren Sievers, Helge Martens und Stephan Krukowska, der mit Barbara, der Tochter vom Direktor, „ging“.
Ihre politische Arbeit wurde am 5. April 1973 jedoch von einem anderen Ereignis in den Schatten gestellt. „Wie weit lasst ihr euren Freund beim Flirt gehen?“ lautete die Riesenüberschrift auf Seite 12 der Bildzeitung. Darunter fand sich neben zwei anderen Mädchen auch das Foto einer Stormarnschülerin: Ingrid, 14, dunkelblonde, gewellte Haare, Johnny-Cash-Fan, 1,66 m groß.
Der Artikel schlug ein wie eine Bombe. Ingrid wäre am liebsten ausgewandert, statt sich je wieder in der Schule blicken zu lassen. Dass sie einem heimtückischen Bild-Reporter ein Interview gegeben hatte, war ihr wahrscheinlich nicht bewusst gewesen. „Ich hab’ wenig Zeit zum Flirten“, wurde sie in der Proll-Presse zitiert. „Die Pille werde ich nehmen, wenn ich 18 bin. Einen Kuss habe ich ganz gern. Petting würde ich auch noch mitmachen. Aber das kommt auf den Jungen an.“
Was Bild verschwieg: Ingrid war katholisch, sah ein wenig aus wie Vicky Leandros und konnte es sich figürlich leisten, in der Schule im roten Minirock umher zu stolzieren.

Im April 1974 war das Kabinett Sievers/Martens/Krukowska immer noch im Amt. Der Elternbeirat verhinderte die Zulassung der SBS und der Jungen Union Stormarnschule (JUST) als politische Schülergruppen und sah mit Grausen dem 1.1.1975 entgegen. An diesem Tag nämlich wurde die bundesdeutsche Volljährigkeit auf 18. Jahre gesenkt, was bedeutete: Die Eltern dieser Schülerinnen und Schüler benötigten von ihrem Nachwuchs nun eine Vollmacht, um Elternbeiräte wählen zu dürfen.

1975 Abi-Ball, Kempka u. Frau, Kapust

Es kam aber nicht so schlimm wie erwartet. Als das Jahr 1975 angebrochen war, kündigte die Schulleitung „nach Jahren der Flaute in den geselligen Unternehmungen eine leichte Brise“ an. Am Dienstag, 29. April, sollte die gesamte Schule zu einer Seefahrt auf die Ostsee starten. Mit diesem geschickten Schachzug setzte das Kollegium der politischen Sturm-und-Drang-Periode an der Stormarnschule ein Ende. Was danach kam, war die „Generation Golf“.

(Henrik Stoldt, Abi 1975)